Poetry Slam als Leseförderung im Medienverbund

Prof. Dr. Petra Anders: Poetry Slam als Leseförderung im Medienverbund

Poetry Slam ist ein Veranstaltungsformat, bei dem ungefähr zwölf Slam-Poeten nacheinander ihre selbstverfassten Texte vor Publikum vortragen (performen) und das Publikum (per Stimmtafel oder ähnlich) den besten Poeten kürt. Es gilt ein Zeitlimit von meist 3 oder 5 Minuten. Ein/Eine Moderator_in sorgt für Stimmung, sammelt die Punkte ein und moderiert die Poeten an und ab. Im Gegensatz zum Rap gibt es keine Musikbegleitung, keinen Gesang und auch kein gegenseitiges Beschimpfen und Beleidigen (dissen). Kostüme und andere Hilfsmittel sind nicht erlaubt.

Die Texte sind entsprechend der gesetzten Zeitvorgabe kurz(-weilig) und enthalten mehr oder weniger lyrische oder erzählende, teilweise auch dramatische Elemente. Oft wirken die Texte alltagsnah, zitieren Literatur, Medien und Popkultur, weisen Schlusspointen und Refrainstrukturen auf, wirken durch ihre Rhetorik unterhaltsam und sind publikumswirksam gestaltet. Durch Merkmale wie das einladende Veranstaltungsformat, das oft in jugendkulturellen Locations platziert ist, und die meist charismatischen Performer_innen und Moderator_innen löst der Poetry Slam weltweit und über alle Generationen hinweg Begeisterung oder zumindest Interesse für Slam Poetry – also die auf dem Poetry Slam vorgetragenen Texte – aus.

Poetry Slam ist eine Steilvorlage für die Leseförderung, wenn man von einem weiten Lesebegriff ausgeht, der nicht nur Printtexte, sondern auch Hör- und Filmtexte einbezieht:

• Slam Poetry ist im Medienverbund rezipierbar, d. h. Kinder und Jugendliche können zwischen Live-Auftritten, gedruckten Texten sowie gefilmten Live-Mitschnitten und filmerisch gestalteten Poetry Clips auswählen, diese Medien kombinieren und vergleichen. Das holt Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Rezeptionsgewohnheiten ab und hilft Lesekrisen zu überwinden.

• Viele Texte sind niedrigschwellig zu rezipieren, weil sie als gesprochene Hörtexte in Großraumveranstaltungen an sich bzgl. des Wortschatzes und syntaktisch schnell verständlich sein müssen, eher wenig Leerstellen enthalten und konkret formulieren, viele Anknüpfungspunkte an jugendliche Alltagswelten bieten und dadurch Kontextwissen aktivieren. Die Performance der Poeten unterstützt zusätzlich die Bildung eines mentalen Modells des Textes und die refrainartigen Wiederholungsstrukturen können entlastend wirken.

• Die sogenannte U20-Jugend-Poetry Slam Bewegung, die sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet, hilft beim Aufbau eines stabilen Selbstkonzepts als Leser_in: Es gibt eine große Vielfalt der Slam Poetry zu entdecken, und zwar nicht nur lesend, sondern auch hörend und zuschauend, schreibend und kommentierend. Für ihre eigene literarische Sozialisation profitieren besonders Jugendliche, die selbst als aktive Slam-Poeten in dieser Szene mitwirken (vgl. Anders 2010).

• Die sozialen Funktionen des Lesens, vor allem des Vorlesens und Zuhörens, werden durch das Format direkt vorgegeben: Dadurch, dass das Publikum die Jury ist, gibt es direktes Feedback und teilweise auch ungezwungenen Austausch über die gehörten Texte. Beim Poetry Slam bleibt das jedoch eher oberflächlich. Die schulische und außerschulische Bildung kann die Anschlusskommunikation intensivieren, etwa indem die Jury die Punktvergabe im Nachhinein begründet, die Kinder und Jugendlichen ihren persönlichen Lieblingstext nochmals vorstellen, die Machart und Wirkung der Texte diskutieren oder zu den gehörten Texten Paralleltexte oder Gegentexte schreiben. Das eigene Involviertsein in einen Poetry Slam, etwa als Publikumsjury oder indem ein befreundeter Poet für die eigene Klasse oder Heimatstadt bei Wettbewerben startet, sowie der informelle Austausch mit Gleichaltrigen über Poetry Clips oder Live-Mitschnitte können ein starker Anlass für die Rezeption literarischer Inhalte sein.

 

Es lassen sich auch Brücken zu Lesemedien schlagen, etwa durch die zahlreichen Anthologien der Slam Poetry, durch das Lesen von Bestsellern populärer Slam-Poeten oder durch Dead-Or-Alive-Slams, bei denen Poeten mit eigenen Texten gegen Poeten antreten, die Klassiker der Weltliteratur performen. Es ist auch vorstellbar, einen „Cover-Slam“ – schon möglich mit Kindern im Hortbereich der Schuleingangsphase – zu veranstalten, wenn die Kinder, auch im Team, ihre Lieblingstexte auf die Bühne bringen, z. B. kurze auswendig gelernte Dialoge oder Balladen, ein Gedicht, eine Szene aus einem Superhelden-Comic oder einem Bilderbuch oder den Text eines Songs.

Für fortgeschrittene Leser_innen (ab Klasse 3) eignet sich auch das Format des Book Slams® (http://www.books-lam.de), da hier bereits Performance-Fähigkeiten, aber noch keine selbst verfassten Texte im Vordergrund stehen. Wer auch explizit visual literacy fördern will, kann den Kurzfilm-Slam initiieren (https://www.zeise.de/film/45).

Ein Poetry Slam-Projekt mit selbst geschriebenen und performten Texten ist erfahrungsgemäß ab circa 15 Jahren anzusetzen, wobei es natürlich immer auf die individuellen Kinder und Jugendlichen und ihre Vorerfahrungen ankommt. Bei der Planung des Projektes sind folgende mögliche Herausforderungen bei der Teilhabe an der Poetry Slam-Kultur zu beachten:

• Die Kinder und Jugendlichen finden Themen, die ein altersgemischtes Publikum spannend finden könnte, zum Beispiel auch mit politischen oder gesellschaftlich relevanten Inhalten.

• Sie imitieren nicht nur die in der Schule oder bei anderen Poetry Slams kennengelernten literarischen Formen, sondern gehen auch darüber hinaus, spielen mit Formen, finden eigene Ausdrucksmittel oder kombinieren die bereits Vorgefundenen neu (z. B. Verbindung eines Raps mit klassischen Versen; Darstellung einer Serie in 5 Minuten etc.)

• Sie bringen eine eigene Meinung bzw. Gefühle und Gedanken für das Publikum auf die Bühne.

• Sie können ihren eigenen Auftritt einschätzen, d. h. sie halten sich an die vorgegebene Zeit, sind textsicher bzw. arbeiten souverän mit Zetteln oder anderen Merkhilfen und können mit der sofortigen Rückmeldung des Publikums (Applaus, aber signalisierte Abneigung, Punktevergabe) umgehen.

• Sie sind bereit, Einladungen für Auftritte bei anderen Poetry Slams anzunehmen und dorthin zu reisen, da die Einladungskultur ein Bestandteil des Poetry Slams weltweit ist.

Nicht jede/jeder muss selbst auf der Bühne stehen – das Format lässt ganz unterschiedliche Rollen zu, so sind neben den performenden Poet_innen auch der Moderator bzw. die Moderatorin und die Zuschauer_innen wichtig. Es können auch Poeten-Coaches eingeplant werden, die bei der Performance beraten, im Internet nach Poetry Clips mit spannenden Auftritten anderer Poet_innen recherchieren und Rückmeldungen auf die Texte und die Auftrittsgestaltung geben.

Lesen und Vorlesen sind Fähigkeiten, die zum lebenslangen Lernen gehören und zeitlebens geschult und immer wieder neu motiviert werden sollen. Weil die Performance bereits beim sinngestaltenden Vorsingen und Vorlesen von Eltern, Erzieher_innen und Grundschullehrkräften eine wichtige Rolle spielt, sind Poetry Slams nicht nur für Kinder und Jugendliche relevant, sondern genauso für die (Vor-)Lesevorbilder: Sie sind diejenigen, die Kinder mit Literatur und Sachtexten in Kontakt bringen und das Selberlesen und Vorlesen initiieren. Daher eignen sich Poetry Slams sowie Workshops zur Performance und zum Kreativen Schreiben auch unbedingt für die Erwachsenen in Erziehungsberufen zur eigenen Professionalisierung. Wer mit Verve vorliest, vorträgt oder selbst ausgedachte Geschichten erzählt, ist das beste Vorbild für literacy.

Eine Kooperation mit den örtlichen Poetry Slams, die es mittlerweile in jeder größeren Stadt gibt, ist der erste Schritt in diese lebendige, weltweit aktive Lese- und Vorlesekultur für Kinder, Jugendliche und alle Literaturvermittler_innen!

Zur Autorin

Prof. Dr. Petra Anders ist Professorin für Grundschulpädagogik/Didaktik Deutsch/DaZ an der Freien Universität Berlin.