Lesen im Alltag

Dr. Maik Philipp: Lesen im Alltag

Viereinhalb Stunden pro Tag: Lesen ist allmächtig

 

Haben Sie sich eigentlich schon einmal gefragt, wieviel Zeit Sie pro Tag mit dem Lesen verbringen und was Sie alles lesen? Ein Forschungsteam aus den USA hat sich für genau diese Frage interessiert und 400 Erwachsene gebeten, über die Leseaktivitäten an zwei Tagen Auskunft zu erteilen (1). Hierfür kam ein Tagebuch zum Einsatz, in dem die Erwachsenen zahlreiche Leseaktivitäten samt ihrer Dauer festhielten. Das Ergebnis: Im Durchschnitt summierten sich die Leseaktivitäten auf 272 Minuten auf. Das entspricht mehr als viereinhalb Stunden. Täglich, wohlgemerkt.

Die Forscherinnen unterschieden vier große Gruppen von Texten: a) kontinuierliche Fließtexte, b) diskontinuierliche Texte (wie Listen), c) Texte, die Zahlen enthielten, und zu guter Letzt d) Hybridformen von Texten, die sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Textelemente enthalten. Kontinuierliche Fließtexte absorbierten mit 98 Minuten mehr als ein Drittel (36 Prozent) der Lesezeit. Texte mit Zahlen schlugen mit 94 Minuten (35 Prozent) ähnlich zu Buche. Hybridtexte mit kontinuierlichen als auch diskontinuierlichen Elementen kamen auf 40 Minuten Lesezeit pro Tag (15 Prozent) und rein diskontinuierliche Texte auf 25 Minuten (9 Prozent). Die übrige Viertelstunde Lesezeit entfiel auf andere, zum Teil nicht zuordenbare Texte.

 

Periodika und digitale Texte schlagen Bücher

Was aber genau lasen die Erwachsenen? Hierfür wurden in der Studie die beiden am häufigsten gelesenen Textsorten (kontinuierliche Texte und solche mit Zahlen) noch einmal genauer betrachtet. Hinsichtlich der kontinuierlichen Texte ergab sich folgende Reihung besonders häufig gelesener Texte: Zeitschriften/Zeitungen (36 min), elektronische Korrespondenz wie Mails (33 min), Informationsmaterialien wie Berichte oder Broschüren (30 min), Bücher (18 min), Anleitungstexte (14 min) und Konsumentenmaterial wie Verträge, Kataloge oder Werbung (14 min). Bücher und Zeitschriften bzw. Zeitungen bildeten zudem eher eine Freizeitlektüre, Informationsmaterial eher Arbeitslektüre.

Bei den Texten mit Zahlen muss vor der Ergebnispräsentation noch darauf hingewiesen werden, dass hier auch diskontinuierliche Texte mitausgewertet wurden. Deshalb übersteigt die Gesamtsumme der in diesem Absatz genannten Zeiten die oben berichteten 272 Minuten. Unter den diskontinuierlichen Texten mit Zahlen dominierte das Lesen von Listen mit 71 Minuten. Fast halb so viel Zeit (37 min) nutzten die Studienteilnehmer für Tabellen und knapp eine halbe Stunde (je 25 min) entfiel auf Schaubilder und Formulare/Rechnungen. Weitere 20 Minuten kostete das Lesen von Karten bzw. Diagrammen.

 

Anschlussmöglichkeiten für die Leseförderung

Sie sehen: Das alltägliche Lesen von Erwachsenen hat wenig gemeinsam mit dem hochgradig aufgeladenen Begriff des Lesens Schöner Literatur oder der verengten Sichtweise des Buchlesens. Im Alltag dominieren eher instrumentelle Leseweisen und elektronische Texte sowie Hybridformen. Wie es bei Kindern und Jugendlichen aussieht, ist derzeit noch unbekannt, aber die Ergebnisse für Erwachsene geben wichtige Impulse für die Leseförderung. Denn man kann mit Kindern und Jugendlichen gezielt ihren Alltag erkunden und ermitteln, in wie vielen Situationen und was für unterschiedliche Texte sie lesen. Das dürfte den problematisch aufgeladenen Lesebegriff in seine realistische Bedeutung zurückholen und Heranwachsenden eine gewisse Sensibilität für ihren Lesealltag verschaffen. Außerdem, und das kann gar nicht ausdrücklich genug betont werden, lassen sich dadurch Gespräche initiieren, was die Heranwachsenden gern lesen, wodurch sich passgenauere Angebote erstellen lassen. Denn das ist zwingend die erste Station der Förderung: die Standortbestimmung, die erst einmal vom Ist beim Lesen ausgeht. Zwar werden es sicher nicht viereinhalb Stunden sein, aber bei Heranwachsenden dürften Sie überrascht sein, wie allmächtig und alltäglich das Lesen auch bei ihnen ist.

Zum Autor

Dr. Maik Phillip ist Professor für Deutschdidaktik mit dem Schwerpunkt Schreibförderung an der PH Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Lese- und Schreibkompetenz, -motivation und -sozialisation, der evidenzbasierten Lese- und Schreibförderung und dem materialgestützten Schreiben.

 

 

(1) White, Sheida; Chen, Jing; Forsyth, Barbara (2010): Reading-Related Literacy Activities of American Adults: Time Spent, Task Types, and Cognitive Skills Used. In: Journal of Literacy Research, H. 3, S. 276-307.