Hörmedien als Instrument der Leseförderung

Rafik Will: Schritt zur Schrift - Hörmedien als Instrument der Leseförderung


In der Entwicklungsreihenfolge der Sinnesorgane eines menschlichen Individuums steht der Hörsinn sehr früh an. Die Fähigkeit zur auditiven Wahrnehmung wird bereits im Mutterleib ausgebildet und kommt lange vor dem Sehen. Hören spielt auch beim Erlernen des Sprechens im Kleinkindalter eine vorrangige Rolle, baut das Sprechenlernen doch immer auf gehörten Äußerungen aus der unmittelbaren Umgebung auf. Bevor Kinder also in der Schule mit der visuell geprägten Schriftsprache konfrontiert werden, haben sie über Hören und eigenes Sprechen bereits die Sprache in ihrer mündlichen Form zu nutzen gelernt. Auch mit Blick auf die Menschheitsgeschichte ist der orale Gebrauch von Sprache dem schriftlichen kausal vorgelagert. Für die Leseförderung ist es damit durchaus interessant, einen Schritt „back to the roots“ zu unternehmen und sich mit der gesprochenen Sprache als Fundament des Lesens zu beschäftigen.

Unter Rezeptionsaspekten sind Hörspiele und Hörbücher niedrigschwellige Angebote, da sie keine Lesekompetenz erfordern und nur mit den Ohren aufgenommen werden müssen. Zudem bieten Hörmedien Kindern oft die erste Möglichkeit zur selbstbestimmten Mediennutzung. Wie prägend Hörmedien sein können, zeigt sich am Begriff „Kassettenkinder“, mit dem die in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts groß gewordene Generation der begeisterten Hörer von „Die drei Fragezeichen“ und ähnlichen Audioproduktionen bezeichnet wird.

Die Hörkultur scheint in Zeiten stark visuell geprägten Medienkonsums etwas zurückgedrängt. Dennoch sind Hörspiele und Hörbücher sowie Reportagen und Features auch heute noch recht beliebt, wie der anhaltende Boom der Podcasts zeigt.

Für die Arbeit mit Jugendlichen und Kindern, die sich kaum oder wenig für das Lesen interessieren, ist besonders ein Aspekt reizvoll: Über die Umgehung der Schriftebene bietet sich die einfache Möglichkeit zur eigenen Autorenschaft. Transkribiert werden kann auch im Nachhinein. Ob eine Kiezreportage, eine aus dem Bereich der Fan-Fiction stammende Story oder ein anderer Stoff umgesetzt wird – den Ideen sind keine Grenzen gesetzt. Aufnahmetechnik ist heute in Form von Smartphones und Diktiergeräten verfügbar, Software zum Schnitt und zur Bearbeitung von Audiodateien ist etwa mit „Audacity“ sogar frei erhältlich.

Wenn am Ende dann Hörstück und Skript erstellt sind, ist das Erfolgserlebnis fast perfekt, es fehlt nur noch die Veröffentlichung. Statt nun eine Datei ins Netz zu stellen und auf Klicks zu warten, kann man zu diesem Zweck auch mit einem der vielen lokal organisierten freien Radios Kontakt aufnehmen, die wie etwa Radio Corax teils schon in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv waren. Kontaktdaten finden sich auf der Website vom „Bundesverband Freier Radios“ unter http://freie-radios.de/.

Neben aktiver Mediengestaltung kann auch das passive Hören ein Schritt zur Schrift sein. Hier sind als Materialfundgrube die öffentlich-rechtlichen Radios zu nennen, die sich um alle Altersgruppen kümmern. Sowohl die Kinderabteilungen der Kulturradios als auch die Jugendradios strahlen Lesungen und Hörspiele aus. Besonders letztere sind ästhetisch ansprechend für die jeweilige Zielgruppe aufbereitet. Hörverlage bannen diese flüchtigen Radioarbeiten sowie Eigenproduktionen auf Tonträger und bieten so die Möglichkeit zur zeitlich selbstbestimmten Nutzung. Eine Orientierungshilfe im Dickicht dieses kommerziell geprägten Marktes bietet etwa die „hr2-Hörbuchbestenliste“, die monatlich erscheint und die herausstechenden Neuerscheinungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene auswählt und kommentiert. Zu erwähnen sind auch die jährlichen ARD-Hörspieltage, ein Hörspielfestival mit Diskussionen und Live-Hörspielen, in dessen Rahmen auch der „Deutsche Hörspielpreis der ARD“ vergeben wird.

 

Zum Autor

Rafik Will arbeitet als freier Journalist und schreibt u. a. eine wöchentliche Radiokolumne für die Tageszeitung junge Welt sowie regelmäßig Hörspielkritiken für den Fachdienst Medienkorrespondenz. Er war Mitglied der Jury zum „Hörspiel des Monats/Jahres“ 2012.