Digitales Lesen

Gerhard Falschlehner: Digitales Lesen – digitale Generation

 

Wie lesen junge Menschen im Internet? Der Webexperte Jakob Nielsen, der Blickbewegungsstudien durchführte, meint lapidar: „Sie lesen gar nicht“. Angesichts Millionen digitaler Seiten, die täglich online gehen, ist das natürlich eher ein boshaftes Aperçu denn ein seriöser Befund, aber es wäre interessant, das Körnchen Wahrheit darin zu suchen. Wie unterscheidet sich Lesen auf einem Bildschirm vom Lesen auf bedrucktem Papier?

Die Benutzung eines Buches oder einer Zeitschrift ist relativ simpel: das Buch bzw. das Druckwerk halten, von links oben bis rechts unten lesen, umblättern, weiterlesen etc. Lesen in digitalen Medien ist vielfältiger, oft auch anspruchsvoller. Sich im Nachrichtenportal von Schlagzeile zu Schlagzeile hangeln; mithilfe von Google oder Wikipedia recherchieren; im Reiseladen den nächsten Traumurlaub suchen und buchen, sich gelangweilt oder belustigt durch die Statusmeldungen der Freund/-innen auf Facebook scrollen. Lesen am Bildschirm hat viele Facetten, mal liest man genau, mal oberflächlich, mal punktuell, mal sprunghaft, mal gleicht es einem 100-Meter-Sprint, mal einem Hürdenlauf.

Nur in Ausnahmefällen – etwa beim E-Book, das das gedruckte Buch möglichst genau nachahmt – steht die Schrift am Bildschirm allein, linear und ungestört, in aller Regel sind Bildschirmtexte multimodal und verfügen über Hyperlinks, die den linearen Lesefluss unter- und durchbrechen. Digitales Lesen ist Slalomfahren durch Kacheln, Links und Fenster und das gleichzeitige Verarbeiten verschiedener Modi wie Schrift, Bild und Ton, ein Navigieren in unterschiedlichen Richtungen.

Die Auswirkungen der digitalen Revolution auf Intelligenz, Gedächtnis, Konzentration und Lernfähigkeit vor allem junger Menschen werden zurzeit heftig und in den unterschiedlichsten Bereichen diskutiert. Zahlreiche Untersuchungen liegen vor, der jeweilige Standpunkt färbt die Ergebnisse. Für Skeptiker/-innen des digitalen Zeitalters lassen sich Indizien finden, die eine globale Verdummung der Menschheit nahelegen. Anhänger/-innen wiederum finden ausreichend Belege für die grenzenlose Freiheit in der digitalen Welt. Auf der einen Seite warnen besorgte und meist nicht mehr ganz junge Intellektuelle bestsellertauglich vor den desaströsen Folgen, auf der anderen Seite erfüllen manche Studien mit Jubelmeldungen offensichtlich vor allem die Erwartungen ihrer Auftraggeber aus der Soft- oder Hardwarebranche. Doch ob gut oder bedenklich – das Lesen in digitalen Medien findet nicht nur statt, sondern hat durch Internet und Social Media das analoge Lesen quantitativ überflügelt. Wir lesen häufiger und mehr auf dem Bildschirm als am Papier. Warnungen vor den Gefahren des Internets klingen also ähnlich wie seinerzeit die Warnungen vor der Benutzung der Dampflokomotive. Der Zug rollt …

 

Mediale Konvergenz

Was die digitale Jugend von der Schriftgeneration unterscheidet, ist die Fähigkeit zur medialen Konvergenz: rasches Reagieren und Switchen zwischen den Medien und Formaten. Die Fähigkeit, auf verschiedenen Tastaturen nahezu gleichzeitig zu spielen, von einem Fenster ins andere, von einem Medium ins nächste zu springen – diese Qualität hat die digitale Jugend uns voraus. Das hat mit jahrelangem Training zu tun: So wie ein Schlagzeuger auf mehreren Schlaginstrumenten mit Händen und Füßen gleichzeitig unterschiedliche Rhythmen schlagen kann, können Jugendliche die unterschiedlichen Rhythmen der medialen Informationen schneller koordinieren. Was fürs digitale Lesen natürlich von Vorteil ist. Während ich mich zwischen mehreren offenen Fenstern ständig verheddere, ist der Umgang mit Windows, Tabs und geöffneten Programmen für meine Söhne in atemberaubend raschem Nacheinander kein Problem.

 

Bestimmt die Leserichtung auch die Denkrichtung?

Die digitalen Medien haben die jahrhundertelang gewohnte Leserichtung – Wort für Wort, von links oben nach rechts unten – nachhaltig durcheinandergebracht. Leser/-innen müssen sich im Web den Informationspfad selber suchen. Die autoritative Vorgabe des linearen Textes wird ersetzt durch – Freiheit oder Beliebigkeit? Noch radikaler verändern Smartphones und Tablets die Rezeptionswege: „Intuitive Benutzerführung“ gilt als neue Qualität der Rezeption. Nicht nur innerhalb eines Textes, sondern auch zwischen den Medien springen wir hin und her: Patchwork-Rezeption ersetzt Linearität.

Haben diese Veränderungen auch mit dem Verlust von Autoritäten zu tun? Die Zehn Gebote ließen sich schön linear aufschreiben und auswendig lernen: erstens, zweitens, drittens … Autor/-innen geben gewissermaßen die Sinnspur vor, wie ihr Text zu lesen sei. Die „neuen“ Medien verweigern ein solches Orientierungsangebot. Schwarmintelligenz statt eindeutigem Urheber. Leser/-innen sind Rezipient/in und Produzent/in von Inhalten zugleich. Ist das eine neue Form der Mediendemokratie? Oder fördert es bloß Orientierungslosigkeit? Wird der fortschreitende Machtverlust traditioneller Autoritäten wie Kirche und Staat durch die Richtungsliberalität der Medien verstärkt oder ist die nicht lineare Konzeption der Medien ein Ausfluss des Autoritätsverlusts? Wahrscheinlich bedingen und verstärken beide Phänomene einander.

Die Diskussion ist nicht neu, sie fand – unter umgekehrten Vorzeichen – schon einmal statt. Die ägyptischen Hieroglyphen waren in ihrer Leserichtung nicht festgelegt, konnten also von rechts nach links oder von links nach rechts gelesen werden, je nachdem in welche Richtung die Symbole (Menschen, Tiere, Götter) am Anfang einer Zeile blickten. Die Diskussion über die Auswirkungen der Schreibrichtung entstand, als die hieroglyphische Bilderschrift von der griechischen Buchstabenschrift abgelöst wurde. Philosophen der Antike konstatierten, dass die Alphabetschrift ein diskursives Nacheinander, die Bilderschrift dagegen ein intuitives Nebeneinander der Gedanken impliziere. Heute erleben wir also wieder einen Turning Point: Digitale Medien ermöglichen neue Lese- und Schreibrichtungen, lösen sich vom diskursiven Nacheinander und agieren mit offenen Zeichensystemen. Unsere Kinder lesen die Welt nicht mehr als logisches Nacheinander, sondern als assoziatives Nebeneinander. Welche Chancen und/oder Gefahren in einem räumlichen, simultanen, intuitiven Erfassen der Informationen über die Welt liegen, ist eine der spannenden Fragen der digitalen Zukunft.

(Aus: Gerhard Falschlehner: Die digitale Generation. Jugendliche lesen anders. Ueberreuter Wien Berlin 2014)

 

Zum Autor

Gerhard Falschlehner, freier Journalist, Publizist und Lehrer; seit 2001 Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs der Jugend und der Bücher-Bühne im KinderLiteraturHaus Wien. Zahlreiche Publikationen, Seminare und Vorträge zu Lese- und Mediendidaktik, Preisträger der "AusLese" für internationale Leseförderung der Stiftung Lesen.