Comics als Instrument der Leseförderung

Prof. Dr. Roland Jost: Comics und Lesen

Seit Jahrzehnten haben sich jene literarischen ‚Gegenstände‘ in den Freizeitlesegewohnheiten von Kindern, von Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen etabliert, die als ‚sequenzielle Kunst‘ unter dem Gattungslabel ‚Comic‘ firmieren. Das sind „zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen“ (McCloud 2001). Comicstrips finden Eingang in unterschiedlichste Lehr-Lernprozesse etwa:

• um Lernmaterialien interessanter zu machen

• um komplexe, abstrakte Vorgänge und Zusammenhänge, z. B. in Naturwissenschaften oder in Geschichte, zu veranschaulichen

• als selbstständiger Gegenstand literarisch-ästhetischen Lernens und Verstehens, was die Leseförderung mit umfasst.

Die prominente Präsenz von Comics auch in Zusammenhängen des Alltags und in allen Medien lässt den Comic als allseits im Welt- und Erfahrungswissen von Kindern und Jugendlichen verankert erscheinen, was ihn zu einem attraktiven Anknüpfungspunkt für Lernprozesse macht.

Comics sind für unterschiedlichste Lernertypen zugänglich und lassen sich in die unterschiedlichsten Lernzusammenhänge integrieren. Ein Grund dafür ist die immense Vielfalt von Figuren, Motiven, Themen und Stoffen der Comics. Als weiterer Grund ist die besondere Stellung des Comics zwischen Buch und Film als räumlich organisiertes Medium (im Gegensatz zum Film als vor allem zeitlich organisiertem Medium) zu nennen. Der dominierende Wahrnehmungs- und Lesemodus, von links oben nach rechts unten, der sich daraus ergibt, rückt ihn nah an das Lesen schriftsprachlicher Texte.

Die besondere Eigenschaft des Comics ist es, Vorgänge bzw. Geschichten als integrative Einheit von Visuellem und Schriftsprachlichem zu ‚erzählen‘. Lesen und literarisches Lernen werden in der Verknüpfung von Bild und Text evoziert und – gerade mit Blick auf unsere Gegenwart der Bilderwelten, gelegentlich der Bilderfluten – gleichwohl ‚gebändigt‘, eben in relativ klar gegliederten Strukturen plurimedial erzählt. Und Comics sind grundsätzlich dialogisch angelegt. Dies prädestiniert sie in Einheit mit der überschaubaren Anzahl von (wiederkehrenden) gattungs-konstituierenden Merkmalen für die Arbeit gerade mit Kindern und Jugendlichen, die vor ‚Bleiwüsten‘ kapitulieren:

Comics bieten überschaubare Textmengen

• die sich auch grafisch voneinander in Textkästen abgrenzen

• die die Funktion der Voice-Over-Erzählerstimme einnehmen können

• in Sprech- und Denkblasen als sprachlichen Mitteilungen der am Geschehen beteiligten Figuren

• als typische (in vielen Comics wiederkehrenden) Symbole und Soundwords.

Diese Texte stehen alle in der ‚Interaktion‘ mit den Bildern, ohne diese zu überlagern bzw. zu dominieren. So können Lehrende bei der Auswahl von Comics für Lehr-Lernprozesse beispielsweise auf kurze Strips mit geringerer Textmenge zurückgreifen, wenn sie es mit Lernern zu tun haben, denen das Lesen schriftsprachlicher Texte große Mühe bereitet. Die Bilder indes enthalten eine Menge an Informationen, die ‚gelesen‘, d. h. denen Bedeutungen durch den Rezipienten zugewiesen werden müssen:

• Gefühle

• Stimmungen in Gesichtern und in Körperhaltungen

• Aktionen

• Bewegungen im Raum auch mittels kameraähnlicher Einstellungen bzw. vor allem mittels entsprechender Ein-stellungswechsel

• Speedlines

Deutlicher als beim Film steht dabei die Induktionsleistung des Rezipienten im Vordergrund, die er für das Schließen der ‚Leerstellen‘ zwischen den Panels aufwenden muss, um das Zusammen von Teilen und Ganzem (selbst) zu konstruieren. Die Selbststeuerung des Lesens und Induzierens kann dabei, im Gegensatz zum Film, vom Rezipienten selbst gesteuert werden und kommt daher den subjektiven Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeiten entgegen.

Gerade hier, an diesen ‚Rinnsteinen‘, eröffnet sich ein großes, anspruchsvolles Lernpotenzial. Vor allem ergeben sich dadurch Differenzierungsmöglichkeiten, je nach Leistungsbereitschaft und -fähigkeit und je nach Lesesozialisation unterschiedliche Aufgabenstellungen anzubieten. So können beispielsweise bilderbuchsozialisierte Kinder auf entsprechende Erfahrungen zurückgreifen, zumal zahlreiche aktuelle Bilderbücher die Erzählweisen und -strukturen des Comics nutzen.

Gleichwohl enthalten Comics immer größeres Motivationspotenzial für Gesprächs- und Schreibanlässe sowie für produktive Verfahren. So könnten beispielsweise, gerade in informellen Lernumgebungen, Impulse gegeben werden, in einem Panel (oder auch in mehreren Panels) Alternativen für den Sprechtext zu formulieren und dann zu überlegen, was sich wie im Bild dadurch verändern müsste (und umgekehrt) und welche Auswirkungen im Fortgang der erzählten Geschichte dadurch entstehen könnten, um hier Möglichkeiten des operativen Umgangs mit Comics anzudeuten. Eine andere Möglichkeit, für (literarische) Texte zu sensibilisieren und zum Lesen zu motivieren und zugleich über die ‚Leistungen‘ von Schrift- und Bildsprache zu reflektieren, wäre der Auftrag an die Lernenden, aus einer kurzen (!) Geschichte oder auch nur anhand eines Teils einer Episode einen eigenen Comic zu verfassen.

Die große Bandbreite und die unüberschaubare Zahl auf dem Markt befindlicher Comics machen die Auswahl geeigneter Comics nicht gerade leicht. Gleichwohl seien hier mit dem Fokus auf ‚Leseförderung‘ im Sinne einer Motivierung zum (weiterführenden) Lesen einige Hinweise gegeben:

So eignen sich beispielsweise die Märchencomics von Rotraut S. Berner als (minimalistische) Grimm-Adaptionen für Kinder ebenso wie die Kästner-Adaptionen „Pünktchen und Anton“ und „Emil und die Detektive“ von Isabel Kreitz oder der überzeugend mehrdimensional angelegte Comic Detektiv „John Chatterton“ von Yvan Pommaux sowie für geübtere, schon lesemotiviertere Kinder die Buchreihe „Gregs Tagebuch von Jeff Kinney.

Für Jugendliche gibt es zahlreiche Graphic Novels, die sich als Bearbeitungen von historisch und gesellschaftlich relevanten und brisanten Themen besonders für die Motivation zu weiterführendem Lesen eignen, wie etwa Marjane Satrapis „Persepolis“, Art Spiegelman’s „MAUS“, Joe Sacco‘s Reportagen „Palästina“ oder auch den Interview-Comic „Die große Transformation“, ein Sachtext, herausgegeben von Alexandra Hamann u. a., in dem Wissenschaftler zu Comic-Helden im Kampf gegen den Klimawandel werden.

Zum Autor

Prof. Dr. Roland Jost ist Professor an der PH-Ludwigsburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Theorie der literarischen Moderne, Literatur-/Mediengeschichte, die Literatur des 20. Jahrhunderts, Medienästhetik sowie Filmanalyse und Filmdidaktik.