Lesen und digitale Spiele

Dr. Silke Günther: Lesen und digitale Spiele

Leseförderung und digitale Spiele – eine Allianz auf den zweiten Blick

Digitale Medien haben auf verschiedenen Ebenen durchaus Eingang in die Leseförderung gefunden (1), z. B.:

  • in Form der begleitenden Rezeption von Hörmedien
  • einer kreativ gestalterischen Auseinandersetzung mit Lesetexten unter Einbindung digitaler Medien
  • als primär auf die Förderung des Lesefleißes zielende Angebote, wie Antolin oder Lepion
     
    Digitale Spiele hingegen werden, wenn sie nicht didaktisch aufbereitet sind, häufig nicht als Medien in Betracht gezogen, die sich für Lernprozesse nutzen lassen. Schon gar nicht werden sie als etablierte Medien der Leseförderung angesehen. Ihre Potenziale für die Leseförderung auszuloten, ist durchaus lohnenswert. Denn digitale Spiele haben einen hohen Verbreitungsgrad in allen sozialen Schichten und eine positive affektive Besetzung für die Spielerinnen und Spieler.
    Was bieten digitale Spiele konkret, dass es sinnvoll sein könnte, sie in die Leseförderung zu integrieren? Zu nennen wären hier:
  • Aufmerksamkeitsfokussierung, denn u. a. durch das konstante und zeitnahe Feedback verbleibt die Aufmerksamkeit auf dem Spiel
  • Hilfe bei der phonologischen Dekodierung, da häufig nicht nur die Schriftzeichen, sondern auch die dazugehörigen Laute dargeboten werden und mehrfach abgerufen werden können
  • unmittelbares Feedback zum Textverständnis, werden Texte nicht verstanden, wirkt sich das auf das Spielen aus
  • situierte Leseanlässe, d. h. Lesen als sich aus der Spielsituation natürlich ergebende Tätigkeit
     
    Actionspiele sind ein Genre, für das Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Spiele und der Förderung von Aufmerksamkeitsleistungen und phonologischer Informationsverarbeitung untersucht wurden. Am Beispiel der kommerziellen Spielereihe Rayman's Raving Rabbids (2) konnten für die untersuchten lese-rechtschreibschwachen Kinder Verbesserungen aufgezeigt werden. Diese lassen sich vor allem auf die Konfrontation mit Spielaufgaben zurückführen, die visuell-räumliche sowie zeitliche Wahrnehmungsfähigkeiten schulen. Diese ersten Ergebnisse machen das Genre für die Förderung der Aufmerksamkeit und der phonologischen Informationsverarbeitung interessant (3).
     
    Die globale Kohärenzbildung ist eine ist eine komplexe Aufgabe. Darunter versteht man die Integration einzelner gelesener Sätze und Phrasen eines Textes zu einem inhaltlichen Gesamtverständnis, das sich in das eigene Weltwissen einfügt bzw. dieses erweitert. Sie macht das Lesen zur kontinuierlichen Verständnisarbeit, die die Leserin oder der Leser während des Lesevorgangs alleinig leistet. Digitale Spiele offerieren hier unmittelbares Feedback: Unterlaufen der Spielerin oder dem Spieler Missverständnisse in der Sinnbildung, wirkt sich dies negativ auf das Spiel aus. Um mit dem Spiel dennoch fortfahren zu können, wird der Sinnbildungsprozess unmittelbar alleine oder im Austausch mit anderen innerhalb des Spiels angepasst. Auf dieser Ebene können digitale Spiele den Verständnisprozess der Leserinnen und Leser entlasten. Es entsteht Raum, um sich auf das Erlesen kleinerer Textbestandteile zu konzentrieren, ohne dass das Verständnis für den Gesamttext in Gefahr gerät. Textbasierte Rollenspiele wie das kostenlose Browserspiel Cantr II (4) lassen sich dafür gut nutzen. Es besitzt alle beschriebenen Eigenschaften digitaler Spiele, ermöglicht die Konzentration auf das Erlesen von Schriftsprache und darüber hinaus das Hineindenken in eine komplexe Phantasiewelt.
    Situierte bzw. authentische Leseanlässe fördern die Lesemotivation. Digitale Spiele schaffen genau solche Leseanlässe, denn sie situieren das Lesen über die jeweiligen Spielsituationen. Point-and-Click Spiele sind gut dafür geeignet. Dieses Genre folgt dem Eingabeprinzip traditioneller Desktop-PCs und erfordert es, einen Bereich zu lokalisieren und auf diesen zu klicken, um eine Aktion auszulösen. Die Spielenden müssen also eine Wortliste erlesen und die Gegenstände auf einem Wimmelbild anklicken, die zu den erlesenen Wörtern passen, damit die Gegenstände aus dem Bild verschwinden und sie Punkte erhalten. Ohne das Erlesen der Wörter kann die Spielsituation nicht stattfinden.
    Die skizzierten Aspekte lassen sich z. B. um Ausführungen zu Kompetenzüberzeugungen und affektiver Valenz ergänzen. Kompetenzüberzeugungen spiegeln die eigene Erfolgserwartung in Bezug auf ein Medium und dessen Anforderungen wider und beeinflussen den tatsächlichen Erfolg. Leseschwache Jugendliche verbinden mit digitalen Spielen häufig gute Kompetenzüberzeugungen. Dies gilt auch für die affektive Valenz, d. h. die emotionale Wertigkeit, die einem Medium zugeschrieben wird. Diese Aspekte zeigen auf, dass die Nutzung digitaler Spiele als ein Element der Leseförderung angesehen werden kann, das vielfältige und noch weiter zu erforschende Ansatzpunkte bietet. 
     
    Zur Autorin
    Dr. Silke Günther hat nach einem Lehramtsstudium 2007 zum Thema Intermedialität und Geschlechterrollen in nordamerikanischen Fernsehserien promoviert und ist an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg im Bereich Medienpädagogik und Ästhetische Bildung tätig.
     
     
    (1) www.lesen-und-digitale-medien.de [zuletzt zugegriffen am 1.11.14]
    (2) rabbids.ubi.com/bwaaah/de-DE/home/index.aspx [zuletzt zugegriffen am 1.11.14]
    (3) Franceschini et al.: Action Video Games Make Dyslexic Children Read Better, Current Biology (2013) 23/6, S. 462–466
    (4) www.cantr.net [zuletzt zugegriffen am 1.11.14]